Kraftquell Sowjetliteratur – Ein Abend mit Dr. Irmtraud Gutschke

Es gibt Wissenschaftler, die zwar in ihrem Fachgebiet hervorragende Spezialisten, aber keine guten Referenten sind. Frau Dr. Irmtraud Gutschke – „Baujahr“ 1950 – gehört zweifellos nicht zu dieser Kategorie. Im Gegenteil: Mit ihren spannenden, unglaublich lebendigen Vorträgen zieht sie die Zuhörer regelrecht in ihren Bann. Schon mehrfach konnten wir die promovierte Literaturwissenschaftlerin in der Zittauer Str. 29 begrüßen. Am Abend des 26. Oktober 2023 war es wieder so weit. Der „Kraftquell Sowjetliteratur“ stand diesmal im Mittelpunkt – ein Thema, das alles andere als langweilig zu werden versprach, schon allein deshalb, weil jeder Bewohner der ehemaligen DDR ganz unterschiedliche Erfahrungen mit der Literatur aus den Weiten des „großen Bruderlandes“ verband. Kein Wunder also, dass die Veranstaltung trotz des nasskalten Wetters gut besucht war. Es wäre auch kaum ein anderer Referent geeigneter gewesen, das komplexe Thema Rezeption der Sowjetliteratur in der DDR auf intellektuell anspruchsvollem Niveau und gleichzeitig allgemeinverständlich so darzustellen wie Dr. Irmtraud Gutschke. Die Ursache hierfür liegt nicht zuletzt in der Biografie der Referentin begründet. Irmtraud Gutschke besuchte zunächst eine R-Klasse (Russisch-Klasse) – zu jener bekanntlich die einzig mögliche Form der Hochbegabtenförderung – und wurde nach der 8. Klasse in das speziell auf die intensive Förderung der russischen Sprache ausgerichtete Internat Wickersdorf aufgenommen. Eigentlich wäre ihr zukünftiger Lebensweg damit vorgezeichnet gewesen, denn Wickersdorf war gewissermaßen die „Eliteschule“ für zukünftige Russischlehrer. Irmtraud Gutschke jedoch entschied sich anders: Sie studierte Slawistik und Anglistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und wechselte nach dem Studienabschluss 1974 an die Humboldt-Universität 1976, wo sie im Rahmen einer außerplanmäßigen Aspirantur promovieren konnte. „Schuld“ an dieser ungewöhnlichen Karriere war Klaus Höpke, der die frisch gebackene Uni-Absolventin sozusagen „vom Fleck weg“ für das Neue Deutschland engagierte. Fortan war Irmtraud Gutschke dort zuständig für den Bereich „Auslandsliteratur“ und damit natürlich auch für die Rezensierung sowjetischer Literatur.

Sowjetische Literatur, so Dr. Gutschke, „ging ganz selbstverständlich von einer Utopie aus, die sozialökonomisch fundiert war“ – gemeint ist damit die Utopie einer gerechten Gesellschaft, einer Gesellschaft, „die von Ausbeutung frei ist und die allen Menschen den Zugang zu Kultur und Bildung ermöglicht“. Zugleich verwies die Referentin jedoch auch auf einen grundlegenden Wandel des Charakters der sowjetischen Literatur im Laufe der Jahrzehnte – und sie schildert die Probleme, die sie bereits als Studentin mit der Rezeption allzu ideologisch geprägter Romane der Stalinzeit hatte. In den 1960ern wandelte sich das Gepräge der Sowjetliteratur. Es war die Zeit, in der Irmtraud Gutschke studierte. Offen spricht sie davon, was sie an dieser „Dorfprosa“ am meisten faszinierte: der Gegensatz zwischen dem dort gezeichneten Alltagsleben mit all seinen Problemen und jenem Idealbild, das in der DDR noch immer über den „Großen Bruder“ verbreitet wurde. „Die Sowjetliteratur“, bekennt sie, „war für mich und für viele andere Leute etwas, das der Ideologie, die wir hatten, etwas hinzufügte … Das führte nicht dazu, dass diese Ideologie dadurch abgeschwächt wurde, sondern es machte sie ehrlicher.“ Die Sowjetliteratur öffnete für die Menschen der DDR gewissermaßen das Fenster zu einer Literatur, in der durchaus auch kritische Töne erlaubt waren. Seit 1985 – wir erinnern uns, es war die Hochzeit von Glasnost und Perestroika – wurde es zunehmend schwieriger, Rezensionen sowjetischer Literatur im Neuen Deutschland unterzubringen. Augenzwinkernd verrät Irmtraud Gutschke, wie es ihr und ihren Kollegen dennoch gelang.

Irmtraud Gutschke rezensierte jedoch die Werke sowjetischer Autoren nicht nur – zu vielen Schriftstellern hatte sie auch persönlichen Kontakt. In lebendigen Worten schwärmt sie von ihrem ersten Interview mit Leonid Leonow, erzählt Anekdoten über ihre Begegnungen mit Bulat Okudshawa, Tschingis Aitmatov und vielen anderen Autoren. Aber sie verschweigt auch verstörende Erfahrungen nicht – so wie jene in Tallinn, als estnische Kollegen auf der Rückfahrt von einem KZ-Besuch Landserlieder anstimmten.

Einer der wichtigsten Autoren für Irmtraud Gutschkes Leben und literarisches Schaffen war der Kirgise Tschingis Aitmatow. Alle seine Werke hatte sie für das Neue Deutschland rezensiert, und bis zu dem Roman „Ein Tag zieht den Jahrhundertweg“ ging das auch gut. Die Rezension zu seinem letzten zu DDR-Zeiten erschienenen Buch „Die Richtstatt“ aber hätte es beinahe nicht gegeben. Wie es dennoch gelang, sie abzudrucken, verriet Irmtraud Gutschke mit einem Augenzwinkern.

Mit einem Zitat aus dem letzten Interview mit Tschingis Aitmatow, geführt auf der Leipziger Buchmesse 2007, schloss die Referentin ihren Vortrag. Gefragt nach der Bedeutung der alten kirgisischen Legende „Die ewige Braut“, antwortete Tschingis Aitmatow: „Ich verstehe diese uralte Geschichte so: Wenn die Kräfte des Bösen sich in das persönliche Leben der Menschen einmischen, wenn sie ihr Glück zerstören, dann darf das nicht vergessen sein. Die Menschen müssen sich ewig daran erinnern; es muss zur Legende, zum Mythos werden. Auf diese Weise kann das Gute, das ja auch immer in der Seele der Menschen lebt, wirken und reagieren. Wenn das alles vergessen wäre, könnte das Böse siegen.“ Nachdenkliche Worte, die heute aktueller denn je sind.