Anatoli Ignatjewitsch Pristawkin, sowjet.-russ. Schriftsteller
(11. Oktober 1931 – 11. Juli 2008)
Schon als Kind musste Anatoli Pristawkin mehr Schmerz und Leid erdulden, als manch anderer im ganzen Leben. Er war neun, als seine Mutter qualvoll an Tuberkulose starb. Ein Jahr später begann der Krieg. Sein Vater ging als Offizier an die Front, um die Heimat zu verteidigen. Anatoli kam von einem Waisenhaus ins nächste, schloss sich Kinderbanden an, suchte auf Müllkippen nach Essbarem und kannte die Gepflogenheiten der Schwarzmärkte besser als die Polizei. Mit 14 Jahren hatte er endgültig genug von den harten Regeln der Waisenhäusern. Er riss aus und schlug sich fortan mit Gelegenheitsarbeiten durch. Die Tätigkeit als Hilfsarbeiter auf einem Flughafen gab seinem Leben schließlich eine Wende: Anatoli Pristawkin machte eine Ausbildung zum Flugzeugtechniker, arbeitete als Elektriker und Funker und schaffte es mit Hartnäckigkeit und Fleiß, eine Zulassung zum Studium am renommierten Maxim-Gorki-Institut in Moskau zu erhalten. 1959 schloss er das Studium ab und veröffentlichte erste Erzählungen, doch noch konnte er sich nicht vollständig der Schriftstellerei widmen, denn er wurde nach Sibirien geschickt, um dort beim Bau des Bratsker Kraftwerks mitzuhelfen. Also wurde Pristawkin Betonbauer und arbeitete gleichzeitig als Korrespondent für die „Literaturnaja Gaseta“ (Literaturzeitung). Seine Eindrücke und Erlebnisse schrieb er in den Tatsachen-Erzählungen „Мои современники“ (1959); „Костры в тайге“ (1964); „Страна Лэпия“ (1960) und dem Roman „Голубка“ (1967) nieder.
Auch nach seiner Rückkehr nach Moskau legte Pristawkin das „sibirische“ Thema nicht völlig zu den Akten, sondern schrieb unter anderem mehrere Aufsätze über den Bau der Baikal-Amur-Magistrale (BAM).
Die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit verarbeitete Pristawkin in zahlreichen Romanen und Erzählungen wie „Солдат и мальчик“ und anderen. Sein wohl bedeutendstes Werk, die Erzählung „Ночевала тучка золотая…“, erschien 1987 und machte ihn endgültig berühmt – auch deshalb, weil die Erzählung sich einem düsteren Kapitel der sowjetischen Vergangenheit widmete: Der Deportierung der Tschetschenen und Inguscheten im Kriegsjahr 1944. Zwei Jahre später folgte mit „Кукушата“ (Wir Kuckuckskinder) eine weitere herausragende Erzählung, in der er das Leben jener Kinder schildert, deren Eltern dem Terror der Stalinzeit zum Opfer fielen.
Angesichts dieser und anderer Erzählungen verwundert es nicht, dass Pristawkin ein großer Befürworter der Politik von Glasnost und Perestroika war. Zu seinen Freunden zählten Lew Kopelew und andere Dissidenten und Oppositionelle. 1991 unterstützte er das Streben Lettlands nach Unabhängigkeit. 1992 wurde er vom damaligen Präsidenten Boris Jelzin zum Vorsitzenden der zentralen Begnadigungskommission zur Aufhebung von Fehlurteilen der Sowjetischen Justiz ernannt. Pristawkin hatte diese Position bis zu seinem Tod im Jahre 2008 inne.
Anatoli Pristawkin besuchte das DRKI bei zahlreichen Gelegenheiten: am 27. Februar 1995, am 2. Mai 1996, am 3. Dezember 2001, am 14. Februar 2003 und am 15. März 2005.